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Der Holzfäller und der Mystiker

Es war einmal ein Holzfäller, der jeden Tag in den Wald ging. Manchmal musste er hungrig bleiben, weil es zu heiss war, manchmal weil es zu kalt war.

In dem Wald lebte ein Mystiker. Er sah, wie der Holzfäller alt und krank wurde, Hunger hatte und tagein, tagaus hart arbeitete.
Er sagte: „Hör mal, warum gehst du nicht ein bisschen weiter?“
Der Holzfäller sagte: „Was hab ich davon, wenn ich ein bisschen weiter gehe? Mehr Holz? Das ich dann meilenweit schleppen muss?“
Der Mystiker sagte: „Nein. Wenn du ein bisschen weiter gehst, findest du eine Kupfermine. Du kannst das Kupfer in die Stadt bringen, und das wird dir für sieben Tage reichen. Dann brauchst du nicht mehr jeden Tag kommen und Holz fällen.“
Der Mann dachte bei sich: „Warum soll ich es nicht versuchen.“
Er ging weiter und fand die Mine. Und er war überglücklich. Er kam zurück und fiel dem Mystiker zu Füssen.

Der Mystiker sagte: „Freue dich nicht zu sehr. Du musst noch ein bisschen tiefer in den Wald gehen.“
„Aber wozu denn?“ fragte der Mann. „Jetzt habe ich doch für sieben Tage genug zu essen.“
„Trotzdem“, sagte der Mystiker.
Aber der Mann meinte: „Wenn ich weiter gehe, verliere ich die Kupfermine.“
Jedoch er sagte: „Geh nur. Sicherlich verlierst du die Kupfermine, aber dort gibt es eine Silbermine. Und was du von dort bringen kannst, reicht dir für drei Monate.“
„Der Mystiker hat mit der Kupfermine recht gehabt“, dachte der Mann. „Vielleicht hat er ja auch mit der Silbermine recht.“ Und er ging und fand die Silbermine.
Tanzend kam er zurück und sagte: „Wie kann ich dir das je vergelten? Meine Dankbarkeit ist grenzenlos.“

Der Mystiker sagte: „Aber nur ein paar Schritte weiter ist eine Goldmine.“
Der Holzfäller zögerte. Er war eigentlich ein armer Mann. Schon eine Silbermine war etwas, was er sich nie hätte träumen lassen.
Aber wenn es der Mystiker sagte, wer weiss? Vielleicht hat er ja wieder recht. Und er fand die Goldmine. Jetzt hatte er so viel, dass er nur einmal im Jahr zu kommen brauchte.

Der Mystiker sagte: „Es wird lange dauern. Du kommst erst in einem Jahr wieder. Und ich bin alt. Vielleicht bin ich dann nicht mehr da, vielleicht bin ich dann fort. Deshalb muss ich dir sagen, dass du bei der Goldmine nicht aufhören sollst. Nur ein Stückchen weiter…“
Aber der Mann meinte: „Warum? Was soll das? Du zeigst mir etwas, und kaum habe ich es, sagst du mir, ich soll es wieder loslassen und weitergehen. Jetzt habe ich die Goldmine gefunden!“
Der Mystiker sagte: „Aber ein paar Schritte weiter im Wald ist eine Diamantmine.“
Der Holzfäller ging noch am selben Tag los und fand sie. Er brachte viele Diamanten mit und sagte: „Das reicht mir für mein ganzes Leben.“

Der Mystiker sagte: „Jetzt treffen wir uns vielleicht nie mehr wieder, deshalb ist hier meine letzte Botschaft an dich: Jetzt, wo du für dein ganzes Leben genug hast, gehe nach innen! Vergiss den Wald, die Kupfermine, die Silbermine, die Goldmine und die Diamantmine. Jetzt verrate ich dir das letzte Geheimnis, zeige dir den grössten Schatz, der in dir ist. Deine äusseren Bedürfnisse sind erfüllt. Setz dich hin, so wie ich hier sitze.“
Der arme Mann sagte: „Ja, ich habe mich schon gefragt… Du weisst von all diesen Schätzen – warum sitzt du die ganze Zeit hier? Die Frage hab ich mir immer wieder gestellt. Und ich wollte dich gerade fragen: Warum holst du dir nicht die ganzen Diamanten, die dort herumliegen? Nur du weisst davon. Warum sitzt du die ganze Zeit unter diesem Baum?“
Der Mystiker sagte: „Nachdem ich die Diamanten gefunden hatte, sagte mir mein Meister: ‚Jetzt setz dich unter diesen Baum und gehe nach innen!‘“

(Ma Prem Shunyo: „Diamanten auf dem Weg“, Prolog)